Politische Theorie

 

Nationalismus und Klassenkampf

Georg Osten (1930, Hervorhebungen im Original)

 

Man braucht durchaus nicht der These von Karl Marx zuzustimmen, wonach alle Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen sei, um anerkennen zu müssen, dass dieser Satz für unsere heutige Zeit wenigstens durchaus zutreffend ist. Es ist nicht zu leugnen, dass alle Kämpfe außen- wie innenpolitischer Art sich auf der Ebene des Wirtschaftskampfes abspielen.

War es noch vor wenigen Jahren fast unmöglich, in Kreisen, die sich national oder auch nationalistisch nannten, vom Klassenkampf als einer geschichtlichen Notwendigkeit zu sprechen, so ist hierin durch die Ereignisse der letzten Jahre eine bemerkenswerte Wandlung eingetreten. Es gehörte ehemals sozusagen zum guten Ton, den Klassenkampf als eine heimtückische Erfindung von Juden und Freimaurern hinzustellen, die in irgendwelchen geheimnisvollen Zusammenkünften die Vernichtung des deutschen Einheitsvolkes beschlossen hätten. Dass hier eine Entwicklung vor sich gegangen war, die im Rahmen des kapitalistischen Systems durch das Anwachsen der industriellen Erzeugungsmöglichkeiten bedingt war, wollte man nicht sehen. Erst in den letzten Jahren wuchs das Verständnis für das Zeitbedingte und Natürliche dieser Vorgänge, die man Klassenkämpfe nennt. Und schon ist man wieder dabei, von befreundeter Seite aus zu erklären, dieser Begriff sei heute doch eigentlich schon überwunden, da ja keine besitzende Klasse im alten Sinne mehr vorhanden wäre, und schließlich jeder Direktor auch des größten Konzerns nur Angestellter des anonymen Kapitals sei.

Zweifellos steckt in diesem Einwand etwas Richtiges. Nur vergisst man, dass es hier zuletzt auf die Tatsachen ankommt, dass ein sehr erheblicher Teil des deutschen Volkes aufgrund seines bürgerlichen (Klassen-) Bildungsvorrechts und der sinnlosen Verzerrung des Begriffes „national“ gleich „eigentumschützlerisch“ sich bewogen fühlt - auch ohne im eigentlichen Sinne selbst zur besitzenden Klasse zu gehören - sich vor die zahlenmäßig kleine Gruppe der tatsächlichen Kapitalisten zu stellen und dadurch den Begriff dieser Klasse zu stabilisieren. Hinzu kommt, was durchaus nicht unterschätzt werden darf, dass sehr starke Teile des enteigneten Mittelstandes hoffen, eine Wiederherstellung der alten wirtschaftlichen Verhältnisse zu erleben und dadurch selbst wieder zu kleinen Kapitalisten zu werden.

Man hat im weitaus größten Teil der Bourgeoisie noch gar nicht erkannt, dass sich vor unseren Augen ein Vorgang abspielt, den man in gewissem Sinne schon eine Art von „Expropriation der Expropriateure“ nennen kann, wenn auch vorerst diese Expropriation zugunsten der Hochfinanz als der international führenden Weltmacht erfolgt ist. Übrigens ist diese Entwicklung vor vielen Jahrzehnten von Marx und seinen Mitarbeitern vorhergesehen worden. Und es ist nicht ohne Interesse, in diesem Zusammenhang die Worte eines bekannten Sozialreformisten anzuführen: „Immer gewalttätiger gestalten Kapital und Arbeit die Machtmittel, die sie in ihren Klassenkämpfen aufbieten. Immer riesenhafter werden die Kämpfe, immer umfassender ihre Ziele; immer mehr bewegen sie die ganze Gesellschaft, immer mehr werden alle Klassen an ihren Ergebnissen interessiert. Diese sozialen Kämpfe werden immer mehr zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens unserer Zeit. Das, und nicht die Milderung der Klassengegensätze, ist die Folge der Überwindung der kapitalistischen Verelendungstendenz durch ein in siegreichen Klassenkämpfen emporsteigendes Proletariat.“ (Karl Kautsky im Heidelberger Programm der SPD)

Wir sind allerdings geneigt, das Wort von den siegreichen Klassenkämpfen des Proletariats bis auf weiteres stark in Zweifel zu ziehen. Gerade wir Sozialrevolutionäre, die wir aus der Erkenntnis der deutschen Position die einzig mögliche Folgerung im Bekenntnis zur proletarischen Klassensolidarität zogen, sehen heute eher eine zunehmende Festigung der kapitalistischen Klassenherrschaft als ein aktiveres Anschwellen des Klassenkampfes. Die besitzende Oberschicht aller Völker - die, nebenbei bemerkt, einen überwältigenden Anteil reinrassiger Arier aufweist - hat es glänzend verstanden, in kritischen Augenblicken durch geschickte Spekulation auf die Mentalität der mittleren und unteren Bürgerschichten sich Hilfstruppen zu sichern, die für die angeblich bedrohten Grundlagen aller Sittlichkeit und Kultur, das Privateigentum, sich in bewundernswerter Selbstlosigkeit zu opfern bereit sind.

Wir, die wir die bürgerliche Abneigung gegen feststehende Werte wie Proletariat, Bourgeoisie und Klassenkampf, wenn wir sie überhaupt je empfanden, längst und gründlich überwunden haben, kamen aus dem Begreifen der Lage Deutschlands zu der Überzeugung, dass das Geschick dieses Landes und Volkes, dem unsere leidenschaftliche Liebe gehört, in Zukunft einzig und allein noch geformt werden kann durch jene Klasse, die sich mit Recht die proletarische nennt. Wir denken nicht daran, aus sentimentalen Bedenken durch das Erfinden neuer Begriffe und Worte von neuem einen Wall zwischen uns und unseren Kameraden aufzurichten. Wir selbst als besitzlose, dem kapitalistischen System wehrlos ausgelieferte Menschen wissen und erkennen an, dass uns mit denen, die sich auch heute noch schützend vor das herrschende System unter den verschiedensten Bannern und Bewegungen stellen, nur noch eines verbindet: unüberwindliche Feindschaft. Gerade wir - als Nationalisten - lösen um der Nation willen die einmal geglaubte Volksverbundenheit mit Teilen unseres Volkes auf, die diese selbst durch ihr Handeln verspielt haben. Das ist die Zerreißung des Volkes in Klassen. Wir bedauern diese Zerreißung nicht. Ihr herrschendes System bedeutet Unfreiheit, Unterwerfung der Nation unter anonyme Mächte, bedeutet Entrechtung der arbeitenden Massen zugunsten einer Schicht, die mit Führungsansprüchen auftritt, deren Berechtigung wir nicht anerkennen. Wir haben uns überzeugt, dass auch die Kreise, die mit faschistischen Mitteln ein „Drittes Reich“ erkämpfen wollen, grundsätzlich an den bestehenden wirtschaftlichen Verhältnissen nichts zu ändern willens sind. Die von dort ausgegebenen Losungen haben uns, wie wir zugeben müssen, eine Zeitlang täuschen können; nachdem wir ihre Hohlheit erkannten, ziehen wir die Folgerungen.

Wir bejahen den Klassenkampf, der der Arbeiterschaft von der anderen Seite ja erst aufgezwungen worden ist, als eine Tatsache. Wir tun es nicht um irgendeiner abstrakten Idee willen, sondern weil man politische Realitäten nicht aus der Welt schaffen kann, indem man vor ihnen die Augen verschließt. Wir wissen aber, dass unser Ziel nur erreicht werden kann durch schärfste Aktivierung der vorhandenen Gegensätzlichkeiten. Wir wollen keinen Ausgleich, keine Reform, sondern die klare Entscheidung. Diese Entscheidung wird einmal über die vorübergehende Diktatur der Ausgebeuteten führen; was an uns liegt, um diese Diktatur herbeizuführen, werden wir tun. Nicht aus romantischer Ideologie, sondern weil wir überzeugt sind, dass nur dieser Klasse gelingen wird, die anderen Gruppen sich einzugliedern, aufzusaugen und damit zu ihrem Verschwinden und zum Gegenstandsloswerden des eigenen Klassenbegriffs zu kommen.

Dass für eine solche Entwicklung internationale Verbindungen zu anderen unterdrückten Völkern und zu den proletarischen Klassen in allen Ländern von großer Bedeutung sein können, liegt auf der Hand; ob sie es tatsächlich werden, wird durch die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei den betreffenden Gruppen und Staaten bestimmt. Auf jeden Fall aber hat der deutsche Nationalismus, der ein entschiedener und grundsätzlicher Gegner jeder Kolonialpolitik und des Imperialismus ist, keinen Grund, irgendeine Möglichkeit zurückzuweisen, die ihm zur Erreichung seiner Ziele nützen kann. Wir wissen, dass ein Gedeihen unseres eigenen Volkes am besten dann gesichert ist, wenn auch in anderen Staaten die heute unterdrückten Klassen die Macht ergreifen. Wir wissen, dass ein auf der Grundlage des Rätesystems sich selbst verwaltendes Volk eher in der Lage sein wird, imperialistischen Eingriffen einig und geschlossen entgegenzutreten, als das ein heutiges Deutschland sein kann.

Wir wollen die Einheit der Nation, die Blüte und Freiheit Deutschlands. Es ist uns klar geworden, dass dieses Ziel dasselbe ist, das mit teilweise anderen Bezeichnungen das deutsche Proletariat erstrebt. Unsere Frontstellung gegen den Kapitalismus, gegen den Imperialismus, gegen deren Träger und Schutzgarde, die Bourgeoisie, ordnet uns von selbst dem Proletariat ein. Wir begrüßen diese gemeinsame Front mit der Arbeiterschaft. Es ist nur eine Selbstverständlichkeit, dass wir in dieser Einheit auch den Weg zum gemeinsamen Ziel bejahen, den Weg des Proletariats, in dem heute bewusst und unbewusst allein die Nation lebt.
Dieser Weg heißt Klassenkampf. Das Ziel ist die Nation.

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