Zeitgeschichte + Hintergründe

 

Josef Klemens Pilsudski

 

von Robert Korda

 

Das Leben und die historische Leistung Josef Klemens Pilsudskis aus deutscher und nationalrevolutionärer Sicht zu würdigen, ist ein äußerst schwieriges Unterfangen. Unzweifelhaft kämpfte Pilsudski anfangs für das legitime Recht des polnischen Volkes auf ein selbstverwaltetes Heimatland. In vielerlei Hinsicht ist sein politischer Lebensweg geradezu bezeichnend für die persönliche Entwicklung einiger Nationalrevolutionäre.

Ursprünglich linker Sozialist, erkannte er immer mehr die Bedeutung der nationalen Frage und stellte sich damit gegen den linkssozialistischen Internationalismus. Gleichzeitig bekämpfte er aber auch scharf den reaktionären Nationalismus. Am Ende errichtete er eine „semifaschistische“ Diktatur in Polen. Während des Kampfes für einen unabhängigen polnischen Staat, der in seinen natürlichen Grenzen ökonomisch möglicherweise nur schwer lebensfähig gewesen wäre, veränderte sich Pilsudskis Politik stark in Richtung Hegemonismus und Chauvinismus. Unter seiner Führung wurde das jahrhundertelang unterdrückte polnische Volk zum Unterdrücker der Deutschen, Litauer und Ukrainer in den von Polen annektierten Gebieten. Es ist leider eine historische Tatsache, daß lange unterdrückte Völker, wenn sie ihre Unabhängigkeit erreichen, oftmals selbst zu Unterdrückern werden. Konflikte waren aufgrund der ethnisch äußerst heterogenen Zusammensetzung der Bevölkerung in Ostmitteleuropa nach dem ersten Weltkrieg geradezu vorprogrammiert. Das Ideal eines Nationalstaates, der ein kulturell weitgehend einheitliches Staatsvolk umfaßt, war aufgrund der wechselvollen Geschichte dieser Gebiete so nicht umsetzbar.

Das von US Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) im Zuge seines 14-Punkte-Programms vom 08.01.1918 postulierte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ (self-determination of the nations) ließ sich angesichts der ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppierungen in Ostmitteleuropa, die noch dazu eng miteinander verwoben waren, nur mechanistisch durchsetzen, was in der Konsequenz zu Unterdrückung, Vertreibung und Mord führte.

Als Beispiel für die Komplexität der Völkergemeinschaft in Ostmitteleuropa mag die Volksabstimmung am 11.07.1920 in Ostpreußen, im Gebiet von Masuren dienen. Große Teile der Bevölkerung dieses Gebietes sprachen eine Sprache, die auf dem Polnischen basierte und sehr stark mit deutschen Lehnworten durchsetzt war. Polen erhob nach dem ersten Weltkrieg Ansprüche auf dieses Gebiet und erlitt in der aufgrund des Versailler Diktats angesetzten Volksabstimmung eine vollständige Niederlage. Bei der preußischen Volkszählung 1910 hatten noch 42,7 % der Bevölkerung als Muttersprache Polnisch angegeben. Wobei zu bedenken ist, daß Masurisch nicht mit dem Polnischen identisch ist, die Bevölkerung jedoch die Frage „Deutsch“ oder „Polnisch“ - ohne die Alternative Masurisch - sicher eher mit „Polnisch“ beantwortet haben mag. Hinzu kam, daß die masurische Bevölkerung im Gegensatz zur polnischen überwiegend evangelisch-lutherisch getauft war. Bei der Abstimmung stimmten 97,8% der Bevölkerung für einen Verbleib bei Deutschland.

Die Neugründung des polnischen Staates war von Anbeginn an durch expansionistische Ideen und großpolnische Vorstellung belastet. Polnische reaktionäre Nationalisten träumten von der Wiedererrichtung des Jagiellonen- oder des Piastenreiches, was mit den politischen und ethnischen Gegebenheiten des 20. Jahrhunderts nicht zu vereinbaren war.

Das Wiedererstehen eines polnischen Nationalstaates war politisch das Werk Josef Klemens Pilsudskis, er war die treibende Kraft aber seine sozialistischen Ideale scheiterten an politischen, ethnischen und ökonomischen Realitäten.

Herkunft und Jugend:

Josef Klemens Pilsudski wurde am 5. Dezember 1867 in Zulow nahe Wilna im zaristischen Rußland als Sohn einer Familie des Kleinadels geboren. Die Familie hatte insgesamt 12 Kinder. Er erhielt eine äußerst strenge Erziehung, besuchte die Schule in Wilna und schloß 1885 das Gymnasium ab. Im Anschluß begann er an der Universität von Charkow Medizin zu studieren. Dort bekam er Kontakt zu Revolutionären und wurde Mitglied der radikal sozialistischen Organisation „Narodnaja Wolja“ („Wille des Volkes“). Bereits nach kurzer Zeit wurde er aus politischen Gründen der Universität verwiesen und versuchte, sich an der Universität Dorpat zu immatrikulieren. Er wurde jedoch aus politischen Gründen nicht zum Studium zugelassen. Pilsudski brach sein Studium endgültig ab und kehrte vorübergehend nach Wilna zurück.

Im Dezember 1886 reiste er zu seinem Bruder Bronislaw (1866 -1918) nach St. Petersburg und beteiligte sich an der Vorbereitung eines Sprengstoffattentats auf Zar Alexander III. (1845 - 1894). Am 13.03.1887 wurden Josef Klemens Pilsudski und seine Mitverschwörer Bronislaw Pilsudski und Alexander Uljanow (1866 - 1887), Lenins älterer Bruder, wegen revolutionärer Umtriebe verhaftet und in der „Peter und Paul Festung“ in St. Petersburg inhaftiert. Alexander Uljanow wurde wegen Verschwörung gegen den Zaren zum Tode verurteilt und hingerichtet. Bronislaw Pilsudski erhielt 15 Jahren Zwangsarbeit auf Sachalin, wo er seine Verbannung zu umfangreichen Studien über die eingeborene Bevölkerung nutzte und sich als Ethnologe einen Namen schuf. Er beging 1918 Selbstmord. Josef Klemens Pilsudski wurde zu 5 Jahren Verbannung verurteilt und nach Sibirien deportiert.

Gründung der polnischen sozialistischen Partei:

Nach seiner Entlassung aus der Verbannung im Jahre 1892 war Pilsudski Mitbegründer der „Polska Partia Socjalistyczna“ („Polnische Sozialistische Partei“), die 1893 in Warschau gegründet wurde. Diese stand im Gegensatz zur von Rosa Luxemburg (1871-1919), Leo Jogiches (1867-1919) und Julian Marchlewski (1866-1925) ebenfalls 1893 gegründeten „Socjaldemokracje Królestwa Polskiego” („Sozialdemokratische Arbeiterpartei Polens“). Die SKP war im Gegensatz zur PPS stark internationalistisch ausgerichtet. Ihre Führung sah die nationale Frage Polens nur im Kontext einer proletarisch-sozialistischen Revolution und als der Klassenfrage grundsätzlich unterzuordnen an. Für Pilsudski und die PPS war die nationale Frage hingegen vorrangig.

Am 15.07.1899 heiratete er Maria Juskiewicz und konvertierte vom katholischen zum evangelischen Glaubensbekenntnis, später konvertierte er wiederum zum Katholizismus. Ein Jahr nach ihrer Hochzeit zogen beide von Wilna nach Lodz.

Dreizehn Jahre nach seiner ersten Verhaftung wurde er 1900 wiederum inhaftiert, da er Schriftleiter der Untergrundzeitung „Robotnik“ („Der Arbeiter“) war. Zusammen mit ihm war seine Frau verhaftet worden, die man jedoch nach 11 Monaten aus der Haft entließ. Das Gefängnis in der Zitadelle von Warschau, in dem Pilsudski inhaftiert war, galt als ausbruchssicher, und er täuschte eine Geisteskrankheit vor, um ins Irrenhaus von St. Petersburg überführt zu werden. Mit Hilfe eines polnischen Arztes gelang ihm 1901 die Flucht über Kiew nach Lemberg, der Hauptstadt des habsburgischen „Königreiches Galizien und Lodomerien“. Das zu Österreich-Ungarn gehörende Königreich war zu etwa 60% polnisch und zu 40% ruthenisch (ukrainisch) besiedelt.

Nachdem er aus der Haft entkommen war, begann Pilsudski, eine paramilitärische Garde der Partei zu organisieren („Organizacja Bojowa“). In seinen Augen sollte ein Guerillakrieg gegen exponierte Ziele der Verwaltung und der Infrastruktur in Russisch-Polen als Initialzündung für einen nationalrevolutionären Kampf des polnischen Volkes wirken. Die finanziellen Mittel dazu beschaffte man sich auf dem Wege der revolutionären Expropriation. Diese Taktik führte unter anderem zur späteren (1906) Spaltung der PPS in zwei Fraktionen, Pilsudskis „Fracja Rewolucyjna“ und der PPS „Lewicka“.

Der polnische Nationalismus:

Das Lager der polnischen Nationalisten war Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedene Fraktionen zersplittert, wobei zwei Richtungen dominierten, Pilsudskis PPS und die „Stronnictwo Narodowo-Demokratyczne („Nationaldemokratische Partei“) unter Roman Dmowski (1864-1939). Pilsudski und Dmowski waren zeitlebens erbitterte Gegner. Während Pilsudskis PPS den bewaffneten Kampf für ein unabhängiges Polen gegen Rußland führen wollte, strebte Roman Dmowski eine Aussöhnung mit Rußland unter panslawistischen Vorzeichen an. Dmowskis Nationaldemokratische Partei war zudem stark klerikal geprägt. Später im Jahre 1917 gründete Dmowski im französischen Exil das „Komitet Narodowy Polski“ („Polnisches Nationalkomitee“, eigentl. „Polnisches Volkskomitee“) und unterzeichnete im Namen Polens das „Versailler Diktat“.

Während Pilsudski in Rußland den größten Feind der polnischen Nation sah und eine taktische Zusammenarbeit mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich erwog, war Dmowski extrem antideutsch eingestellt. Pilsudskis Einstellung war dabei realistischer. Das Zarenreich duldete keine Autonomiebestrebungen. Habsburgisch-Galizien entwickelte sich demgegenüber seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr zu einem halbautonomen polnischen Staatswesen mit polnischen Beamten und einem polnischen Bildungswesen. Die Regierung des Habsburgerreiches duldete polnische, gegen Rußland gerichtete Revolutionsbestrebungen.

Während des Russisch-Japanischen Krieges im Jahre 1904 reiste Pilsudski nach Japan, um Unterstützung für den polnischen Freiheitskampf zu finden, da er den Kriegszustand zwischen beiden Ländern für eine günstige Gelegenheit hielt, den Guerillakrieg gegen Rußland zu forcieren. Pilsudski hoffte, die japanische Seite davon überzeugen zu können, daß der Aufbau einer zweiten Front ihren Interessen entgegenkäme und sie hierfür lediglich Waffen liefern müßte. Japan stand Pilsudskis Plänen sehr vorsichtig gegenüber. Sie wurden letztlich auch dadurch vereitelt, daß Roman Dmowski ebenfalls nach Japan reiste. Dmowski war überzeugt, der russisch japanische Krieg binde nicht genügend zaristische Truppen, um eine Erhebung wagen zu können. Er glaubte, ein Aufstand zu diesem Zeitpunkt führe zwangsläufig zu einer gnadenlosen Zerschlagung der polnischen Freiheitsbewegung.

Trotz des Scheiterns von Pilsudskis Plan, eine Unterstützung durch Japan zu erhalten, begann die PPS mit vereinzelten militärischen Aktionen. Am 13.11.1904 kam es in Warschau bei Protesten gegen die Rekrutierung von Polen für die zaristische Armee zu einem Feuergefecht zwischen Angehörigen der Polnischen Sozialistischen Partei und dem russischen Militär. Pilsudski kehrte erst nach Beendigung des Krieges 1905 nach Rußland zurück. Die zaristische Regierung war im Jahre 1905 nicht nur durch den verlorenen Krieg gegen Japan, sondern auch durch revolutionäre Erhebungen insbesondere der Rebellion in St. Petersburg stark angeschlagen. Die darauffolgenden Wahlen zur ersten russischen Duma 1906 wurden von der PPS boykottiert.

Pilsudski entwickelte sich in der Zeit vor 1914 mehr und mehr zur zentralen Figur des paramilitärischen nationalen Widerstands gegen die russische Herrschaft über Teile des polnischen Siedlungsgebietes. Die verschiedenen Gruppierungen innerhalb des Widerstands verband einzig das Ziel die russische Herrschaft zu beenden. Das Königreich Galizien und Lodomerien stellte ihre Operations- und Rückzugsbasis dar. 1910 wurden in Lemberg ein sogenannter Schützenverband („Zwiazek Strzelecki“) und in Krakau eine Schützengesellschaft („Towarzystwo Strzeleckie“) gegründet, die militärische Übungen und Vorträge organisierten. Militärische oder propagandistische Aktivitäten gegen Österreich - Ungarn wurden aus taktischen Gründen nicht durchgeführt.

Der erste Weltkrieg:

Im Ausbruch des ersten Weltkrieges sah Pilsudski eine historische Chance. Mit dem Weltkrieg war für die polnische Bevölkerung eine äußerst schwierige Situation entstanden. Durch die 3. polnische Teilung 1795 war das ehemalige Königreich Polen vollständig auf Rußland, Österreich und Preußen aufgeteilt worden, wobei rund 82% des polnischen Staatsgebietes von 1772 an Rußland fielen. Durch den Wiener Kongreß 1815 war das „Königreich Polen in Personalunion mit Rußland“ („Kongreßpolen“) geschaffen worden, welches aber 1832 nach einem polnischen Aufstand nominell aufgehoben wurde. Nun kämpften Polen sowohl in der russischen Armee als auch auf Seiten der Mittelmächte. Rußland, welches das größte Kontingent polnischer Soldaten rekrutiert hatte, versprach nach Kriegsende ein teilautonomes Polen.

Während des Krieges bildeten sich zusätzlich diverse Freischärlergruppen, die für ein unabhängiges Polen kämpften, wechselnde Allianzen eingingen und sich zum Teil gegenseitig bekämpften. Pilsudskis „Polnische Legion“ entstand im August 1914 und kämpfte unter dem Oberkommando des Generals Heinrich Kummer von Falkenfeld (1852-1929) auf der Seite der österreich-ungarischen Armee. Die Armeeführung hoffte, polnische Aufstände würden zu einer erheblichen Schwächung der russischen Seite führen. Es zeigte sich jedoch, daß die russische Herrschaft im Land sehr gefestigt war und zudem die Propaganda gegen die einmarschierte Armee des Deutschen Reiches unter General Remus von Woyrsch (1847-1920) Erfolge zeigte. Große Teile der Bevölkerung sahen sich kulturhistorisch dem Russischen Reich näher als dem Deutschen. Pilsudskis Legion wurde von der Bevölkerung als Teil einer Invasionsarmee betrachtet. Als sich die russische Armee in Folge der Schlacht bei Tannenberg, der Schlacht bei den masurischen Seen und der Großoffensive der Mittelmächte (Durchbruchsschlacht von Gorlice-Tarnow) im Sommer 1915 auch aus dem polnischen Siedlungsgebiet zurückziehen mußte, folgten ihr große Teile der polnischen Bevölkerung hinter die russischen Linien. Das Deutsche Reich hatte im Verlauf der Kämpfe Ostpreußen zurückerobert und große Teile Russisch-Polens besetzt.

Die Auferstehung Polens:

Der deutsche Außenminister Theobald von Bethmann-Hollweg (1856-1921) und der österreich- ungarische Außenminister Stephan Freiherr Burjian von Rajezc (1851-1922) beschlossen am 12.08.1916 die Wiederauferstehung Polens als Staatsgebilde im Hinblick auf eine mögliche zukünftige Pufferfunktion gegenüber Rußland und um sich der Unterstützung der polnischen Bevölkerung zu versichern. Am 05.11.1916 versuchten die Mittelmächte daher, ein neues polnisches Königreich zu etablieren. Diese Lösung wurde von den meisten Polen begrüßt. Pilsudski sah in diesem Königreich, das sich weitgehend auf Kongreßpolen beschränkte, keine befriedigende Lösung der polnischen Frage. Trotzdem wurde er Mitglied des neugegründeten Staatsrates, wo er nachhaltig ein vollständig unabhängiges Polen fordert. Dementsprechend lehnte er die im Frühjahr 1917 gebildete „Polnische Nationalarmee“ grundsätzlich ab. Bei der Vereidigung der Truppe am 09.07.1917 verweigerten große Teile der Soldaten den Eid auf das neue Königreich, was zur Verhaftung von Pilsudski am 22.07.1917 führte. Er wurde in Magdeburg inhaftiert.

Trotz der Verhaftung agierte die von Pilsudski 1917 gegründete „Polska Organizacja Wojskowa“ („Polnische Militärorganisation“) unter Leitung von Edward Rydz-Smigly (1886-1941) weiter. So existierten die Polnische Nationalarmee und die POW nebeneinander. Die unter deutschem Oberkommando kämpfende Nationalarmee war jedoch deutlich kleiner als die POW.

Großpolnische Expansionsbestrebungen:

Nach dem militärischen Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Oktober 1918 wurde Pilsudski aus der Haft entlassen. Er kehrte umgehend nach Polen zurück und formierte seine Truppen neu. Sofort begannen sie, sowohl in Ruthenien (Ukraine), Livland, Kurland und im deutschen Reichsgebiet, in den Provinzen Westpreußen und Posen, die Kontrolle zu übernehmen. Aufgrund der vollkommen chaotischen Zustände nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte konnte die Polnische Militärorganisation weitaus größere Gebiete unter ihre Kontrolle bringen, als tatsächlich von Polen bewohnt waren.

Die sich abzeichnende Neugründung eines polnischen Staates und die Frage der Machtübernahme führte zu einer Auseinandersetzung zwischen Pilsudski und Roman Dmowski, dessen Polnisches Nationalkomitee von der Entente als legitimer Vertreter Polens während der Versailler Verhandlungen anerkannt war. Pilsudski hatte die militärische Gewalt inne und setzte sich letztlich gegen Dmowski durch. Er konnte sich auch als provisorischer Staatschef („Tymczasowy Naczelnik Nanstwa“) etablieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte Polen de facto zwei Regierungen: Pilsudskis Stab in Warschau und das von der Entente als Vertretung Polens anerkannte Nationalkomitee in Frankreich. Durch die Verhandlungen der polnischen Delegation in Versailles unter Dmowski gelang es Polen, unter anderem durch Zuhilfenahme einer gefälschten Karte von 1772, die deutschen Provinzen Posen und Westpreußen zu erlangen. Dadurch entstanden der „Polnische Korridor“ und die „Freie Stadt Danzig“.

Das unsinnige Konstrukt Freie Stadt Danzig gliederte sich in 2 Stadtkreise, Danzig und Zoppot; 3 Landkreise, Danziger Höhe, Danziger Niederung, Großer Werder (Marienburger Werder) sowie 4 Städte und 258 Landgemeinden. Es galt völkerrechtlich als eigener Staat, seine Bürger waren keine deutschen Staatsbürger mehr. Diese Abtrennung vom Deutschen Reich basierte auf der Forderung Polens nach dem freien Zugang zu einem ausgebauten Hafen. Obwohl die „Freistadt“ direkt an Ostpreußen grenzte und Polen in den folgenden Jahren im annektierten Gdingen einen neuen Hafen aufbaute, sich der Grund damit also erübrigt hatte, blieb das Konstrukt bis 1939 bestehen.

Pilsudski begann, sich zwischenzeitlich auf Galizien zu konzentrieren, da er die von der Entente vorgeschlagene Ostgrenze Polens nicht akzeptierte. Diese Ostgrenze entsprach etwa der späteren „Curzon-Linie“. Namensgeber war der britische Außenminister George Curzon (1859-1925), der diese Linie auf der Konferenz von Spa in der Zeit 05.-16.07.1920 festgelegt hatte. Sie verlief von der Düna in Litauen westlich Wilna und Grodno auf Brest-Litowsk zu, den Bug aufwärts bis östlich Krylow, im Bogen weit westlich von Lemberg und knapp östlich von Przemysl südwärts bis zur Grenze gegen die Slowakei.

Die Linie entsprach etwa dem östlichen Rand des geschlossenen polnischen Siedlungsgebietes, schloß jedoch auch ruthenische, weißrussische sowie litauische Sprachinseln ein. Sie beließ auch polnische Sprachinseln mit etwa einer Million Polen im östlichen Bereich. Zu diesem Zeitpunkt gingen die Interessen Pilsudskis bereits weit über die Schaffung eines Nationalstaates in den Grenzen des polnischen besiedelten Gebietes hinaus. Vielmehr schien der Traum eines Großpolen durch die vollständig aus den Fugen geratenen Verhältnisse in Ostmitteleuropa in greifbare Nähe zu rücken. Seine Politik wandelte sich von der eines Nationalrevolutionärs in die eines aggressiven Chauvinisten.

Annexionen in der Ukraine:

Bereits Ende 1918 hatte Pilsudski mit Angriffen gegen die am 01.11.1918 proklamierte „Westukrainische Volksrepublik“ auf dem Gebiet des ehemaligen Königreiches Galizien und Lodomerien begonnen. Diese Republik bestand lediglich 3 Monate, bevor ihr Präsident Jewgeni Petruschewitsch am 22.01.1919 die Vereinigung mit der ehemals russischen Ukraine zur „Vereinigten Ukrainischen Volksrepublik“ erklärte. Der Zusammenschluß erfolgte unter erheblichem Druck, nachdem Mitte November 1918 polnische Truppen Lemberg erobert hatten. In der Ukraine war zu diesem Zeitpunk die Situation vollkommen unübersichtlich, da im Frühjahr 1919 Teile der russischen „Roten Armee“ einmarschierten, die von „Weißen Garden“ unter General Anton Iwanowitsch Denikin (1872-1947) und General Pjotr Nikolaijewitsch Wrangel (1878-1928) verfolgt wurden. Sie lieferten sich auf ukrainischem Boden heftige Gefechte mit der Roten Armee und der „Machno-Armee“ unter Nestor Machno (1889-1934), einem kommunistischen Anarchisten, dessen Truppen große Teile der Ukraine kontrollierten und die eine von Rußland unabhängige ukrainische Räterepublik etabliert hatten. Hinzu kamen militärische Auseinandersetzungen zwischen der Roten Armee und der Machno - Armee.

Semjon Petljura (1879-1926), der Präsident der Vereinigten Ukrainischen Volksrepublik, der nach dem Abzug der deutschen Truppen und der Flucht von Hetman Paul Skoropadski (1873-1945) an die Macht gekommen war, mußte erkennen, daß er keine Kontrolle mehr über das ukrainische Gebiet ausübte. Große Teile der Westukraine waren Anfang 1920 bereits von polnischen Truppen eingenommen. Daher bot er Pilsudski eine Zusammenarbeit unter dem Vorzeichen einer zu schaffenden polnisch-ukrainischen Staatenunion an. Pilsudski stellte zwei Armeen zusammen und begann am 26.04.1920, gegen Minsk und Kiew zu marschieren. Im Mai 1920 wurde Kiew von Pilsudskis Truppen erobert und eine vereinigte polnisch ukrainische Union proklamiert.

Rückschlag im Osten und das „Wunder an der Weichsel“

Die Sowjetunion begann daraufhin, Truppen unter Michail Nikolaijewitsch Tuchatschewski (1893-1937) und Semjon Michailowitsch Budjonny (1883-1973) zu entsenden, die der polnischen Armee schwere Schläge versetzten. Diese hatten letztlich den völligen Zusammenbruch der polnischen Frontlinie zur Folge. Pilsudskis Pläne, ein Polen unter Einbeziehung der Ukraine, von Teilen Weißrußlands und Litauens zu erobern, waren dem Scheitern nahe. Zusätzlich rückten Truppen der Roten Armee nun auf polnisches Gebiet vor. Sie standen Ende Juli 1920 bereits vor Warschau. Pilsudski wandte sich an die Ententemächte und erhielt militärische Unterstützung durch Frankreich, wobei diese sich offiziell auf die Entsendung von Offizieren beschränkte. Allerdings erhielt die polnische Armee große Mengen von Waffen, die über den Hamburger Freihafen umgeschlagen wurden und deren Herkunft unklar war.

Am 14.08.1920 kam es zur Schlacht, die unter dem Namen „Cud nad Wisla“ („Wunder an der Weichsel“) in die Geschichte einging. Pilsudskis Truppen gelang es, die sowjetische Armee zu zersplittern und zum Rückzug zu bewegen. Die polnischen Truppen setzten nach. Zusätzlich konnten sie am 09.10.1920 Pilsudskis Heimatstadt Wilna erobern. Damit geriet Polen jedoch auch mit seinem neuen Nachbarn Litauen in Konflikt. Unter General Lucjan Zeligowski (1865-1947) versuchte Pilsudski, ein mit Polen assoziiertes Gebilde „Mittellitauen“ zu schaffen. Dieses Konstrukt wurde zwei Jahre aufrechterhalten, bis Polen das Gebiet Wilna am 20. April 1922 endgültig annektierte. Kaunas wurde für die kommende Zeit zur provisorischen litauischen Hauptstadt.

Durch den Krieg mit Sowjetrußland waren die polnischen Truppen erschöpft, und Pilsudski war gezwungen, auf einen Waffenstillstand einzugehen. Wenige Monate später, am 18.03.1921, wurde im Frieden von Riga eine Grenze zwischen Sowjetrußland und Polen gezogen, die fast 200 km östlich der Curzon-Linie lag und damit große Gebiete, die nicht polnisch besiedelt waren, umfaßte. Polen hatte damit 1921 etwa 27 Millionen Einwohner, wovon 8 Millionen Nichtpolen waren.

Besetzung deutscher Gebiete:

Auch im Westen agierten Truppen Pilsudskis, bzw. Truppenteile agierten zumindest mit Unterstützung der polnischen Regierung. So beispielsweise polnische Freischärlerverbände unter Wojciech Korfanty (1873-1939), die in Oberschlesien gegen die mehrheitlich deutsche Bevölkerung vorgingen. Es kam zu erheblichen Auseinandersetzungen, wobei die deutsche Bevölkerung nicht auf den Schutz der deutschen Armee hoffen konnte, da diese nach dem Versailler Diktat desarmiert war und General Hans von Seeckt (1866-1936) ein Eingreifen der Entente befürchten mußte. Die deutschen Freikorps und der „Selbstschutz Oberschlesien“, anfangs unter dem Kommando Generalleutnants Bernhard von Hülsen (1865-1950), in der Folgezeit unter Befehl des Oberschlesiers Generalleutnant Karl Hoefer, leisteten den polnischen Freischärlern während des sogenannten dritten polnischen Aufstandes erbitterten Widerstand.

Bis zur Volksabstimmung im April 1921, der eine außerordentliche polnische Propaganda voranging und bei der die Bevölkerung trotzdem mit 60% für einen Verbleib beim Deutschen Reich gestimmt hatte, dauerten die Kämpfe an. Das Ergebnis der Volksabstimmung wurde von den Ententemächten ignoriert und die wichtigen Industriegebiete Oberschlesiens fielen an Polen. Sie mußten vom Deutschen Reich am 12.10.1921 übergeben werden. Bereits 1919 war Polen mit der ebenfalls neu entstandenen Tschechoslowakei um „Österreichisch-Schlesien“ in Konflikt geraten, als Polen die Stadt Teschen forderte, die 1919 von der Tschechoslowakei besetzt worden war. Sie wurde 1920 geteilt, die Grenze verläuft mitten durch die Stadt. Die Grenzfestlegungen Polens zogen sich bis 1922 hin.

Konstituierung des polnischen Staates:

Im Vorjahr war am 19.02.1921 ein Militär und Wirtschaftspakt mit Frankreich geschlossen worden, der die faktisch seit 1918 bestehende militärische Unterstützung durch Frankreich vertraglich sicherte. Kurz darauf verabschiedete das polnische Parlament am 17.03.1921 eine zweite Verfassung und beschnitt damit Pilsudskis Machtbefugnisse erheblich. Verärgert kündigte er an, für das Amt des Präsidenten bei den geplanten Wahlen nicht kandidieren zu wollen. Im September 1921 fand der erste und einzige Anschlag auf Pilsudskis Leben statt. Bei einem Besuch in Lemberg wurde er von einem ukrainischen Nationalisten beschossen, keiner der drei abgegebenen Schüsse traf.

Die konstituierende Sitzung des am 5./12.11.1922 gewählten „Sejm“ und des Senats fand am 28.11.1922 statt. Die Nationalversammlung wählte am 04.12.1922 Pilsudski zum Präsidenten, der die Wahl jedoch ablehnte. Daraufhin wurde Gabriel Narutowicz (1865-1922) gewählt. Er trat am 14.12.1922 sein Amt an, wurde aber bereits zwei Tage danach von einem Attentäter ermordet. Am 20.12.1922 kam es daher erneut zur Wahl eines Präsidenten, Stanislaw Wojciechowski (1869-1953), der das Amt bis zum 15.05.1926 innehaben sollte.

Rückzug aus der Politik:

Nach den verlorenen Auseinandersetzungen um die polnische Verfassung zog sich Josef Klemens Pilsudski im Mai 1923 vorübergehend aus der Politik zurück. Die Ämter des Generalstabschefs und des Vorsitzenden des Verteidigungsrates legte er nieder. Er lebte mit seiner langjährigen Geliebten Aleksandra Szczerbinska, die er nach dem Tode seiner ersten Frau Maria im Jahre 1921 geheiratet hatte, auf dem Landgut Sulejówe. Er begann, Bücher zu schreiben; so „Wspomnienia o Gabrjelu Narutowiczu“ („Erinnerungen an Gabriel Narutowicz“, erschienen 1923) sowie die Werke „O wartosci zolnierza Legjonów“ („Über den Wert eines Legionärs“, erschienen 1923), „Rok 1920“ („Das Jahr 1920“, erschienen 1924), „U zródel niemocy Rzeczpospolitej“ („Die Ursachen für die Schwäche der Republik“, erschienen 1924) und „Moje pierwsze boje“ („Meine ersten Schlachten“, erschienen 1925).

Trotz seines Rückzuges aus der Politik hatte Pilsudski weiterhin großen Einfluß auf das Geschehen. Die politische Lage in Polen wurde in den Jahren nach 1923 immer unübersichtlicher. In der Zeit vom 20.07.1920 bis zum 17.05.1926 waren insgesamt 9 verschiedene Premierminister im Amt. Auch die wirtschaftliche Entwicklung verlief desaströs. Der monatliche Preisanstieg Ende 1923 hatte 150 Prozent monatlich betragen. Am 02.05.1924 wurde unter der Regierung Grabski eine Währungsreform durch- und der „Zloty“ eingeführt, nachdem eine Hyperinflation die „Marka Polska“, die „Polnische Mark“, zusammenbrechen ließ.

Rückkehr in die Politik und Diktatur:

Unter dem Eindruck der Entwicklung des polnischen Staatswesens beschloß Pilsudski am 10.05.1926, in die Politik zurückzukehren. Aus einer Militärparade entwickelte sich ein Staatsstreich. Nach 7-tägigen Gefechten trat die amtierende Regierung unter Premierminister Wincenty Witos (1874-1945) und Präsident Stanislaw Wojciechowski (1869-1953) zurück. Pilsudski begann seine Politik der „Sanacja“, der Sanierung. Mit anfänglicher Billigung großer Teile der polnischen Bevölkerung errichtete er eine sogenannte „moralische Diktatur“. Obwohl das Parlament ihn zum Präsidenten wählte, nahm Pilsudski auch diese Wahl nicht an. Zum Präsidenten wurde daher Ignacy Moscicki (1867-1946) ernannt. Pilsudski übernahm die Positionen des Verteidigungsministers und des Generalinspekteurs des Heeres. Alle maßgeblichen Positionen besetzte er mit ehemaligen Offizieren der Unabhängigkeitskämpfe und etablierte damit faktisch eine Militärdiktatur.

Innenpolitische und Außenpolitische Spannungen:

Erste Auswirkung der Machtübernahme war eine Konsolidierung der Staatsfinanzen. Zeitgleich wurde mit der Zerschlagung der Verbände der Ukrainer, Litauer und Weißrussen begonnen. Die Frage um das künstliche Konstrukt „Mittellitauen“ verschärfte sich gegen Ende des Jahres 1927, nachdem die Sowjetunion und Litauen am 28.09.1926 einen Nichtangriffspakt unterzeichnet hatten, in dem die Sowjetunion den Anspruch Litauens auf das Gebiet von Wilna anerkannte. Auf Druck des Deutschen Reiches und der Sowjetunion, die seit dem „Rapallo-Vertrag“ vom 16. 04.1922 diplomatische Beziehungen aufgenommen hatten und seit dem „Berliner Vertrag“ von 24.06.1926 partiell zusammenarbeiteten, verhandelten Polen und Litauen 1928 auf der Konferenz von Königsberg, ohne jedoch zu einer Einigung zu kommen. Polen war durch die Anerkenntnis Litauens seitens der Sowjetunion und dadurch, daß sich das Deutsche Reich im „Berliner Vertrag“ für den Fall einer Auseinandersetzung Sowjetrußlands mit einer dritten Macht als strikt neutral erklärt hatte, in der Lage, daß, im Falle eines Konflikts mit Sowjetrußland, der Verbündete Frankreich nicht über den Landweg Unterstützung hätte leisten konnte. Polen war damit militärisch weitgehend isoliert.

Zu den außenpolitischen Spannungen kam innenpolitische, da Pilsudski nicht nur die reaktionäre Rechte bekämpfte, sondern auch die Linke gegen sich aufbrachte. Diese war empört über seine Zusammenarbeit mit den Großgrundbesitzern. Pilsudskis Regierung scheute nicht davor zurück, drastische Maßnahmen zur Stabilisierung anzuwenden. Sie sorgte ab 1928 dafür, daß Parlamentssitzungen in Anwesenheit von Polizeikräften durchgeführt wurden, um die teilweise tumultartigen Debatten zu beenden. Bei der Parlamentswahl 1928 trat Pilsudski mit einem sogenannten „Parteilosen Block“ an, (er war seit längerem aus der von ihm mitgegründeten Partei PPS ausgetreten), konnte jedoch keine Mehrheit erringen. Daher löste er den Sejm auf und ließ zahlreiche Oppositionspolitiker in Brest in einem Lager internieren. Am 05.12.1929 schlossen sich die Mitte und Linksparteien zur „Centrolew“ (Zentrums-)-Bewegung zusammen. Sie umfaßte die Parteien „Polska Partia Socjalistyczna“, „Polskie Stronnictwo Ludowe - Wyzwolenie“, Stronnictwa Chlopskiego, „Polskie Stronnictwo Ludowe-Piast“, „Narodowej Partii Robotniczej“ und „Chrzescijanskiej Demokracji“.

Außenpolitisch konnte Pilsudski einen am 09.02.1929 geschlossenen Nichtangriffspakt, das Litwinow-Protokoll, mit der Sowjetunion, Rumänien, Lettland und Estland als Erfolg verbuchen. Die Initiative dazu ging vom sowjetischen Außenminister Maxim M. Litwinow (1876 - 1951) aus. Am 05.04.1929 trat auch Litauen dem Litwinow-Protokoll bei, womit die Auseinandersetzung um Wilna zugunsten Polens beigelegt war.

Währenddessen setzte die Weltwirtschaftkrise auch der polnischen Ökonomie stark zu. Am 10.09. 1930 wurde das Parlament endgültig aufgelöst und erneut viele Oppositionelle, insbesondere Mitglieder der „Centrolew“-Bewegung, verhaftet. Bereits im Juni des Jahres hatte Pilsudski eine „Centrolew“-Konferenz auflösen und die Delegierten verhaften lassen. Nicht zuletzt aufgrund der massiven Bekämpfung der Opposition gelang es Pilsudskis Regierungsblock bei der Wahl zum Sejm am 16.11.1930, mit 247 Sitzen die absolute Mehrheit zu erringen.

In der Außenpolitik ergaben sich neuerliche Konflikte, die aus dem problematischen Grenzverlauf Polens resultierten. Die latenten Spannungen mit dem Deutschen Reich insbesondere um Danzig verschärften sich seit der sogenannten „Wicher Affäre“ am 15.06.1932 erheblich. Dabei war der polnische Zerstörer Wicher ohne Genehmigung der Danziger Behörden in den Hafen eingelaufen. Während der Laufzeit eines Vertrages vom 08.10.1921 war der Danziger Hafen für polnische Kriegschiffe frei zugänglich gewesen, der Vertrag wurde allerdings im Frühjahr 1932 vom Senat der „Freien Stadt Danzig“ nicht nochmals verlängert. Polen nahm den Besuch dreier britischer Kriegschiffe zum Anlaß, die Einfahrt zu erzwingen. Als bekannt wurde, daß der Kapitän Anweisung hatte, bei etwaigem deutschem Widerstand das Feuer zu eröffnen, kam es zum Eklat. Selbst der polnische Außenminister Zaleski zeigte sich „entsetzt“ über die möglichen Konsequenzen des Zwischenfalls. Polen unterhielt zudem auf der Danziger Westerplatte, innerhalb der Grenzen der „Freien Stadt Danzig“, eine militärische Stellung, deren Truppenstärke ständig erhöht worden war, und betrieb innerhalb der Stadt eine polnische Post, deren Etablierung bereits am 05.01.1925 zu heftigen Protesten des Danziger Senats und der Bevölkerung geführt hatte. Von den 400.000 Einwohnern Danzigs waren 1933 nur etwa 9% Polen, 1923 waren es noch 3,3 % gewesen. Trotzdem stand die Stadt, die offiziell einem Völkerbundmandat unterstand, außenpolitisch unter polnischer Souveränität. Polen erhob nach wie vor Ansprüche auf die „urpolnische Stadt“. Angesichts der nach wie vor bestehenden innenpolitischen Schwierigkeiten waren diese Ansprüche allerdings nicht mehr realistisch.

Innenpolitisch wurden vom Regime sämtliche bürgerlich demokratische Freiheiten weiter eingeschränkt. Ein provisorisches Ermächtigungsgesetz wurde im März 1933 durchgesetzt. Ab 1934 wurden politische Häftlinge im Lager Bereza Kartuska in Galizien interniert. Gleichzeitig begann ein bereits in den 20er Jahren stets latent vorhandener Antisemitismus, schleichend zum Bestandteil der Regierungspolitik zu werden. Pilsudski selbst war kein offener Antisemit, große Teile der polnischen Nationalisten waren allerdings erklärte Antisemiten. Der Antisemitismus hatte in der polnischen Bevölkerung eine lange Tradition, was nicht zuletzt auf ihrer allgemein tiefreligiös katholischen Einstellung beruhte.

Verhältnis zum Deutschen Reich nach 1933:

Nachdem am 30.01.1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler des Deutschen Reiches ernannt worden war, sah Pilsudski in Deutschland eine gesteigerte Bedrohung, da es offensichtlich schien, daß Hitler eine ernsthafte Revision der Grenzen des Versailler Diktats anstreben würde, obwohl er in „Mein Kampf“ geschrieben hatte, die Forderung nach der Wiederherstellung der Grenzen von 1914 sei eine „erbärmliche“, denn sie stoße „jeden etwa aus dem Bunde unserer Feinde springen wollenden Partner wieder zurück“ da dieser Angst haben müsse, isoliert angegriffen zu werden.

Ein Erstarken Deutschland mußte nach den vorangegangenen großpolnischen Allüren und der Stimmung im Deutschen Reich zu einer Konfrontation in der Frage des „Polnischen Korridors“ und der „Freien Stadt Danzig“ führen. Noch war das Deutsche Reich jedoch weder politisch noch militärisch in der Lage, Revisionsansprüche durchzusetzen. Diese Situation wollte Pilsudski nutzen. Er versuchte, die französische Regierung von der Notwendigkeit eines präventiven Angriffs auf Deutschland zu überzeugen. Bei seinem Staatsbesuch in Paris scheitert dieses Anliegen jedoch. Parallel dazu versuchte Pilsudski eine Annäherung an das Deutsche Reich und setzte nach dem Scheitern seines französischen Planes ausschließlich auf diese Karte. Um eine Eskalation von deutscher Seite zu verhindern, erging am 15.03.1933 während des Wahlkampfes zum „Volkstag“ an die Gauleitung der Danziger NSDAP die unmißverständliche Anweisung „sich größter Zurückhaltung zu befleißigen“.

Am 19.04.1933 meldete der Gesandte des Deutschen Reiches Hans Adolf von Moltke (1884-1943) das Interesse der polnischen Führung an direkten Verhandlungen nach Berlin. Bei einem Treffen zwischen dem polnischen Gesandten Wysocki und Hitler am 02.05.1933 zeigten beide Seiten Kompromißbereitschaft. Im Kommunique zu diesem Treffen stand wörtlich „der Reichskanzler betonte die feste Absicht der deutschen Regierung, ihre Einstellung und ihr Vorgehen strengsten im Rahmen der bestehenden Verträge zu halten ( ... ) der Reichskanzler spricht den Wunsch aus, daß die beiden Länder ihre gemeinsamen Interessen leidenschaftslos überprüfen und behandeln möchten“.

In Danzig veränderte sich die Situation dramatisch. In der Wahl zum Danziger „Volkstag“ am 28.05.1933 hatte die NSDAP 50,12% aller abgegebenen Stimmen, die „Polnische Liste“ hatte 1,11 % erreicht. Die Wahlbeteiligung lag bei 92,09 % der Wahlberechtigten. Wenige Monate später, am 05.10.1933, kam es zu einer Vereinbarung zwischen der „Freien Stadt Danzig“ und Polen, in dem die vorher ungeklärten Fragen der polnischen Minderheit in Danzig und der Einbindung des Danziger Hafens in den polnischen Außenhandel zu polnischer Zufriedenheit gelöst wurden.

Der neue polnische Gesandte Josef Lipski (1894-1958) traf sich am 15.11.1933 mit Hitler, und die Basis für den am 26.01.1934 zwischen Polen und dem Deutschen Reich geschlossenen Nichtangriffspakt wurde geschaffen. Dr. Joseph Goebbels wurde anläßlich der Vertragsunterzeichnung von Pilsudski in Warschau empfangen. Der Bündnisvertrag beinhaltete, bei einer Gültigkeit von zehn Jahren, ein gegenseitiges Versprechen auf Gewaltverzicht. Im Februar wurde er um eine Pressevereinbarung ergänzt, die den propagierten Hass in den Medien beider Länder beseitigte. Einen Monat später, am 15.03.1934 wurde das sogenannte „Zollfriedenskommunique“ wirksam, das einen weiteren jahrelangen Streit zwischen Deutschland und Polen beilegte. Die weitere geplante Zusammenarbeit beider Staaten umfaßte wirtschaftliche und kulturelle Projekte. Herrmann Göring reiste am 28.01.1935 nach Polen. Ein Deutsch-Polnisches Institut wurde am 25.02.1935 an der „Lessing-Hochschule“ in Berlin eröffnet. An einem Empfang der Polnischen Gesandtschaft zu diesem Anlaß nahm auch Göring teil.

Tiefpunkt des französisch-polnischen Bündnisses und Ausweitung der Diktatur:

Durch die relativ schnelle Entwicklung der polnisch-deutschen Beziehungen geriet das Verhältnis Polens zu seinem engsten Verbündeten Frankreich in eine erhebliche Schieflage. Als der französische Außenminister Louis Barthou (1862-1934), Inhaber des höchsten polnischen Ordens für den polnisch-französischen Beistandspakt von 1921, am 09.10.1934 in Paris einem kroatischen Attentat auf den jugoslawischen König Alexander I. zum Opfer fiel, kondolierte die polnische Regierung nicht einmal.
Innenpolitisch versuchte Pilsudski, mit der Annahme der sogenannten „Aprilverfassung“ durch den Sejm am 23.04.1935 seine Macht weiter zu stärken. In Absatz II dieser Verfassung wurden dem Staatspräsidenten fast unumschränkte Machtbefugnisse zugesprochen.

Der Tod Pilsudskis:

Kurz darauf am 12.05.1935 starb Josef Klemens Pilsudski jedoch überraschend an Krebs. Sein einbalsamierter Leichnam wurde, eingekleidet in eine Paradeuniform, für zwei Tage in der „St. Johannes Kathedrale“ in Warschau aufgebahrt. Danach wurden seine sterblichen Überreste nach Krakau überführt wo er in der „Leonard-Krypta“ der „Wawel-Kathedrale“ unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und in Anwesenheit führender europäischer Politiker beigesetzt wurde. Sein Herz wurde auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin nach Wilna überführt und neben seiner Mutter auf dem Rasu-Friedhof bestattet.

Resümee:

Pilsudski wird heute in Polen ungeheuer verehrt, steht er doch als Person für das Wiedererstehen eines souveränen polnischen Staates. Bei allem Respekt vor dieser historischen Leistung darf jedoch nicht übersehen werden, daß Pilsudski während des polnischen Unabhängigkeitskampfes eine rücksichtslose Hegemonialpolitik vertrat und die polnische Grenzfestlegung unter großpolnischen Aspekten durchsetzte. Während seiner Herrschaft betrieb Polen eine massive Unterdrückung der ethnischen Minderheiten. Deutsche, Litauer, Ukrainer, Weißrussen und Juden unterlagen erheblichen Repressalien.

Die spätere, auf eine Verständigung mit dem Deutschen Reich gerichtete Politik entsprach der Einsicht in das Unausweichliche. Pilsudski sah klar, daß ein Überleben Polens zur damaligen Zeit nur mit einer engen Bindung an das Deutsche Reich möglich war. Er war nicht nur militärisch, sondern auch politisch ein hervorragender Stratege.

 

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